Text 1. Heimliche Leidenschaften

Heimliche Leidenschaften

Meine Großmutter, die sich üblicherweise gleich nach dem Abendessen verabschiedet und nicht einmal auf Dessert warten will, geht auf ihr Zimmer. Und wir wissen, dass wir sie nicht stören dürfen. Meine Oma hat ein geräumiges Zimmer, das im Erdgeschoss unserer Villa liegt. Genauer gesagt, gehört die Villa, die apropos aus dem 19. Jahrhundert stammt, meiner Großmutter.

Omas Zimmer, dessen Fenster auf den Garten gehen, ist im Empirestil eingerichtet. Pompöse Möbelstücke, auf die sie sehr stolz ist, passen seltsamerweise zum Lebensstil meiner lieben alten Dame. Vor ihrem Fenster wächst eine alte mächtige Eiche, die meine Oma, wie sie selbst glaubt, vor Verbrechern schützt. Meine Großmutter hat eine gute Hausbibliothek, die aus 10 000 Bänden der Weltliteratur besteht, die meisten von denen sie sicher gelesen hat. Meine Oma ist eine belesene Frau und kann eigentlich auf alle unsere Fragen, die sie vielleicht manchmal dumm findet, antworten.

Die alte Dame hat eine Schwäche für Detektivromane von Agatha Christie. Im Sommer ist der Garten Omas Lieblingsaufenthaltsort, an dem sie stundenlang in ihrem Schaukelstuhl sitzen und sich in das Buch vertiefen kann.  Zusammen mit Hercule Poirot oder Miss Marple  enträtselt sie (zum hundertsten oder tausendsten Mal!) die Fälle. Ich ahne, dass ihr der exzentrische Ordnungsfanatiker Poirot, der mit strenger Logik ermittelt, zu kompliziert scheint. In ihren Gedanken identifiziert sich  meine Oma mit Miss Marple, die ihre Fälle mit Menschenkenntnis löst.

Die Großmutter hat aber die Leidenschaft, der sie nur heimlich nachgeht, nie zugegeben. Sie bewahrt ihre Christie-Schätze an unauffälligen Orten, die allen Familienmitgliedern jedoch bekannt sind: Mehrmals hat sie ihre Bücher offen liegen lassen. Wir gaben allerdings ihr nie zu verstehen, dass wir hinter ihr Geheimnis schon längst gekommen waren. Manchmal beim Abendtee belehrt sie uns: " In schweren Situationen genügt allein strenge Logik nicht. Man muss über genügend Menschenkenntnis verfügen." Wir wissen ja, woher der Wind weht, lassen uns aber nichts anmerken.

Последнее изменение: Понедельник, 28 января 2019, 12:09